25.05.2023: App mit Kardiologen | VR-Brille für Demenzkranke | Nachfrage nach neuem Dosiersystem für Diabetiker
Handelsblatt Inside Digital Health: Donnerstag, 25. Mai
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Donnerstag, 25.05.2023
Guten Tag
liebe Leserinnen und Leser,
das Start-up Preventicus hat seine App mit einer ärztlichen Behandlung kombiniert. Für den Arzt scheint das Angebot attraktiv vergütet zu werden. Auch einige Anbieter von Apps auf Rezept denken über eine stärkere Einbindung der Ärzte nach. Ich habe die Unterschiede zwischen den verschiedenen digitalen Versorgungsmodellen analysiert.
Fast zwei Millionen Menschen in Deutschland sind an Demenz erkrankt. Mit Virtual Reality können sie ihr Gedächtnis trainieren. Jan Wittenbrink hat mit Gründern eines Start-ups gesprochen, das VR-Brillen in Pflegeheime bringt.
Patient21 hat am Montag die größte deutsche Digital-Health-Finanzierungsrunde des Jahres verkündet. Die Gründer kaufen Zahnarztpraxen und digitalisieren sie. Wohin das frische Kapital fließt, berichten Lukas Hoffmann und ich.
Verschiedene Gesundheitsfirmen haben ein Dosiersystem für Diabetiker entwickelt, das den Blutzuckerspiegel kontinuierlich überwacht und die Insulinzufuhr anpasst. Lukas Hoffmann hat herausgefunden, wie sich die Nachfrage in letzter Zeit entwickelt hat.
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Das Start-up Preventicus hat ein digitales Versorgungskonzept entwickelt.
Eine App misst den Herzrhythmus, bei Auffälligkeiten überprüft ein Telekardiologe das Ergebnis und schickt den Patienten bei Auffälligkeiten innerhalb von 14 Tagen zu einer EKG-Untersuchung.
Grundlage für dieses Angebot ist ein Selektivvertrag mit verschiedenen Krankenkassen.
Mit „Schlaganfallrisiko senken“ warb die Kaufmännische Krankenkasse Ende April in einem Brief an ausgewählte Versicherten für die App Preventicus Heartbeats. Das Schreiben enthielt einen Zugangscode, mit dem die Empfänger die Anwendung für ein Jahr kostenlos nutzen können.
Dafür müssen sie ihren Finger regelmäßig für 60 Sekunden auf die Smartphone-Kamera legen. Das kardiologische Fachpersonal der Herzklinik Ulm überprüft die Ergebnisse der App. Bei Verdacht auf Vorhofflimmern erhalten die Versicherten innerhalb von zwei Wochen einen Termin zur Untersuchung beim Kardiologen. Denn unregelmäßiges und schnelles Herzklopfen kann zum Schlaganfall führen.
Von dieser Interaktion zwischen App und Arzt dürfte so mancher Hersteller einer digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA) nur träumen. Die Frage, ob und inwieweit Ärzte in die Anwendung einbezogen werden sollen, taucht in Diskussionen zu DiGA immer wieder auf. Denn DiGA werden noch wenig genutzt. Entgegen manchen Erwartungen investierten die Krankenkassen nach Berechnungen von Handelsblatt Inside im vergangenen Jahr 0,01 Prozent ihrer Gesamtausgaben in die Apps auf Rezept.
Das Versorgungsmodell von Preventicus Heartbeats hat sich Thomas Hübner ausgedacht. Anders als ein DiGA-Hersteller verdient sein Unternehmen vor allem mit dem Selektivvertrag „RhythmusLeben“, den es 2019 gemeinsam mit dem Dienstleister GWQ Service Plus und der IKK Südwest entwickelt hat. DiGA werden nach der Zertifizierung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) von Ärzten verordnet und von allen gesetzlichen Krankenkassen erstattet.
Gut 20.000 Nutzer des Preventicus-Programms
„Apps auf Rezept können durch die Erstattung aller gesetzlichen Krankenkassen natürlich viel schneller skalieren“, sagt Gründer Hübner. 20.167 Versicherte haben nach Unternehmensangaben bis 2022 am Preventicus-Programm teilgenommen. Zum Vergleich: Für die Adipositas-App Zanadio wurden nach einem Bericht des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen in zwei Jahren 28.000 Freischaltcodes eingelöst. Sie ist die am häufigsten verordnete DiGA.
Gründer Hübner weist auch darauf hin, dass sein Unternehmen wesentlich auf den Hinweis der Kassen auf Preventicus angewiesen ist. Und das tun sie auch: Auf Nachfrage von Handelsblatt Inside bestätigen mehrere Kassen, ihre Versicherten einzeln oder im Rahmen von Projekten auf Preventicus Heartbeats aufmerksam zu machen.
Nur wenige geben auch Auskunft über die Wirkung ihrer Kampagnen: So zählt die KKH seit Oktober 4000 Preventicus-Teilnehmer, die AOK Plus in den Pilotregionen Erfurt, Jena, Gera und Schmalkalden-Meiningen im gleichen Zeitraum rund 3300. Mit einer ebenfalls vierstelligen Nutzerzahl ist die Axa seit dem Sommer 2021 dabei. Die BIG Gesund hat seit Januar vergangenen Jahres 2500 Teilnehmer. Insgesamt sind 15 Krankenversicherungen Kunden von Preventicus.
Vergütung der Ärzte
Auch die Kosten sind unterschiedlich: Während eine DiGA mehrere hundert Euro pro Quartal kostet, liegt Preventicus Heartbeats bei 57,11 Euro pro Nutzer für ein Jahr. Laut Gründer Hübner werden aus den Einnahmen 150 Euro für den Telekardiologen finanziert, der die Smartphone-Klassifizierung kontrolliert. Für die EKG-Untersuchung zahlt das Start-up dem Arzt 80 Euro und stellt die Geräte zur Verfügung. Preventicus kann dafür mehrere hundert Euro abrechnen.
Große Krankenkassen wie die Techniker Krankenkasse oder die Barmer bieten Preventicus Heartbeats nicht an. Die Barmer teilt zu digitalen Präventionssystemen zur Schlaganfallerkennung allgemein mit, dass deren Nutzen noch nicht wissenschaftlich belegt sei. Eine von der European Society of Cardiology 2022 veröffentlichte Studie hat gezeigt, dass Vorhofflimmern bei älteren Menschen mithilfe von Smartphones doppelt so häufig erkannt und behandelt werden kann wie in der Routineversorgung.
Laut Preventicus machen vier Prozent aller App-Nutzer die EKG-Untersuchung. 96 Prozent aller Risikopatienten könnten mit der App identifiziert werden, 99 Prozent der Identifikationen seien letztlich richtig, so Hübner.
Das Eintauchen in virtuelle Welten kann Demenzkranke beruhigen und geistig aktivieren.
Kliniken und Pflegeeinrichtungen testen die Technologie zur Unterstützung von Gesprächstherapien.
Das Start-up RemmyVR dreht 360-Grad-Videos auf allen Kontinenten.
Wohin soll es gehen: An die Ostseeküste, zur Londoner Tower Bridge oder zum Brandenburger Tor? Wählen Nutzer die virtuelle Küste, brechen im nächsten Moment schon die Wellen am Strand. Nach links und rechts schauen, dem Rauschen des Meeres lauschen und die Gedanken schweifen lassen – eine VR-Brille macht die virtuelle Reise möglich.
Das Magdeburger Start-up RemmyVR bietet diese Ausflüge für Senioren in Pflegeheimen an. In ferne Welten abzutauchen, soll zum einen beruhigend und entspannend wirken, zum anderen aber auch die Konzentration, Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung fördern. „Wir erhalten immer wieder Feedback, dass selbst schwer demenzielle Personen durch die Filme neue Impulse erhalten und auf die Bilder reagieren“, sagt Gründerin Roxana Hennig.
1,8 Millionen Menschen leiden in Deutschland unter Demenz, deren häufigste Form die im Alter auftretende Alzheimer-Krankheit ist. Eine Heilung ist nicht möglich, aber kognitive Übungen können den fortschreitenden Verlust geistiger Fähigkeiten verlangsamen.
Pilotprojekt an Berliner Klinik
Immer mehr Pflegeeinrichtungen testen dabei den Einsatz von Brillen verschiedener Anbieter. Im Projekt „Be Digital@Home“ der Stadt Hannover besuchen beispielsweise ehrenamtliche „Medien- und Techniklotsen“ regelmäßig Seniorenzentren – und haben die VR-Brillen im Gepäck.
In Berlin läuft seit Anfang des Jahres ein Pilotprojekt am Alexianer St. Hedwig-Krankenhaus, in dem zwei verschiedene Arten von VR-Brillen zum Einsatz kommen. Eine der eingesetzten Brillen bietet einfache Spiele, die speziell für Senioren geeignet sind. Die andere ermöglicht es – ähnlich wie bei RemmyVR – virtuell an verschiedene Orte zu reisen. Sie stammt vom Anbieter Magic Horizons. Langfristig sei geplant, die neuen Technologien in bestehende Therapien zu integrieren, sagt Eva Döring-Brandl, Leiterin des Gerontopsychiatrischen Zentrums der Klinik.
Die Klinik bietet verschiedenen Patienten an, die Brillen einmal auszuprobieren – und protokolliert, ob diese als unangenehm empfunden wurden oder Schwindelgefühle auslösen. „Wir sind selbst überrascht, wie gut die Brillen bei den Patienten ankommen“, sagt Döring-Brandl.
Die Leiterin des Zentrums berichtet davon, dass Demenzkranke Abläufe in ihrer aktuellen Umgebung nicht nachvollziehen können und sie als bedrohlich empfinden. Eine vertraute Landschaft virtuell erlebbar zu machen, entspanne sie, sagt Döring-Brandl. In bestimmten Fällen kann das VR-Erlebnis auch eine Alternative für Beruhigungsmittel sein.
Gleichzeitig helfen virtuelle Ausflüge dabei, die Vergangenheit wiederzuerleben und so das Gedächtnis zu trainieren. „In der Demenztherapie ist es entscheidend, zurückliegende Ereignisse und die eigene Lebensgeschichte einzuordnen“, sagt Döring-Brandl. Im Anschluss an die VR-Session könnten die betreuenden Personen mit den Patienten über das Erlebte ins Gespräch kommen.
Persönliche Begleitung ist entscheidend
Auch die Deutsche Alzheimer Gesellschaft erhofft sich von VR-Brillen neue Impulse für die Demenztherapie – neben der „Biografiearbeit“ könne sie auch beim Training der Orientierungsfähigkeit hilfreich sein, sagt Sprecherin Susanna Saxl-Reisen.
Gleichzeitig mahnt sie, die Technologie sorgsam einzusetzen. „Die Dauer der VR-Sessions sollte begrenzt sein, damit die Grenze zwischen Realität und VR nicht verschwimmt.“
Wichtig sei die persönliche Begleitung und Betreuung durch Menschen, die sich mit der Technologie auskennen. Wenn angesichts des Pflegenotstands Personal in den Pflegeeinrichtungen fehle, ließen sich neue Technologien schwer einführen.
Das Start-up RemmyVR greift auf eine Brille des chinesischen Herstellers Pico zurück. Die App wird auf die Brille aufgespielt, bevor sie in die Pflegeheime gegeben wird – dort funktioniere sie dann sogar ohne WLAN, sagt Hennig. „Ist eine Anwendung zu komplex, kann man sie im stressigen Pflegealltag kaum unterbringen.“
Rund 50 Pflegeeinrichtungen nutzen RemmyVR derzeit. Für eine einmalige Zahlung erhalten sie ein Paket aus Brille, App und mehr als 40 verfügbaren 360-Grad-Filmen. Darunter seien Reisen auf alle Kontinente, aber auch Tierfilme oder Museumsbesuche, sagt Hennig. „Für jede Person soll etwas dabei sein, das zu ihrer Lebensbiografie passt.“
Das Unternehmen wurde durch das Land Sachsen-Anhalt und die EU gefördert und hat heute drei Festangestellte. Das Angebot an eigenproduzierten Filmen soll kontinuierlich ausgebaut werden. Gerade befinden sich etwa virtuelle Reisen nach Rom und Paris in der Postproduktion – und ein Ausflug auf einen Alpaka-Hof.
Ex-Auto1-COO Christopher Muhr hat mit seinem neuen Start-up Patient21 100 Millionen Euro eingesammelt.
Muhr kauft Zahn- und Arztpraxen auf und stattet sie mit neuer Software aus.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach plant ein Gesetz, das die Geschäfte von Muhr einschränken würde.
Der Unternehmer Christopher Muhr hat als Hodenkrebspatient erlebt, wie analog – und oft ineffizient – das deutsche Gesundheitswesen noch ist. Der ehemalige Chief Customer Officer (CCO) der Onlineverkaufsplattform Auto1 versucht inzwischen mit einem eigenen Unternehmen, das zu ändern. Im Jahr 2019 gründete er gemeinsam mit Nicolas Hantzsch, der ebenfalls eine Hodenkrebserkrankung überstanden hat, das Start-up Patient21 mit dem Ziel, die Digitalisierung voranzutreiben.
Seitdem kaufen Muhr und Hantzsch Arztpraxen, vor allem von Zahnärzten, auf und führen sie nach einem digitalen Umbau unter der Marke ihres Start-ups weiter. Zentral ist dabei eine Plattform, auf der alle Patienteninformationen zusammenlaufen. „Von der Terminbuchung über die Befundung bis zur Aussteuerung der Therapie bündeln wir die gesamte Patientenreise“, sagt Muhr. Schnell ist das Unternehmen gewachsen. 53 Praxen haben die Gründer bereits in ihr Start-up eingegliedert, die meisten der rund 700 Mitarbeiter von Patient21 arbeiten dort vor Ort.
Für weiteres Wachstum haben Muhr und Hantzsch jetzt in einer Finanzierungsrunde 100 Millionen Euro von Investoren erhalten. Frühere Investmentrunden hinzugerechnet, haben die beiden studierten Betriebswirte nun insgesamt 166 Millionen Euro eingesammelt, davon stammen etwa 130 Millionen Euro von Investoren. Den Rest des Geldes haben die Gründer als Darlehen aufgenommen. Damit ist Patient21 auf einen Schlag eines der bestfinanzierten deutschen Digital-Health-Start-ups.
Daten werden in der Cloud gespeichert
Patienten, die eine Patient21-Zahnarztpraxis in Bonn, Duisburg oder Augsburg besuchen, vereinbaren den Termin online und können von zu Hause aus auf ihre Daten zugreifen, die in Amazons Cloud-Dienst AWS gespeichert sind. So ist es ihnen etwa möglich, ihr Gebiss in einer 3D-Visualisierung zu sehen. Röntgenbilder, Arztbriefe und andere medizinische Dokumente – alles liegt in der Cloud, unabhängig von der einzelnen Praxis.
Neben den Bestandsinvestoren Target Global, Piton Capital und Pico Venture Partners sind in der aktuellen Finanzierungsrunde mit Bertelsmann Investment, Artian und dem israelischen Risikokapitalgeber Pitango drei neue Geldgeber eingestiegen. Letzterer führt die Runde als Lead-Investor an. Ein kleiner Teil der Finanzierung besteht zudem aus einem Darlehen, das die Gründer bei IPF Partners aufgenommen haben.
Neben Zahnarztpraxen haben Muhr und Hantzsch auch einige Hausarzt- und Frauenarztpraxen im Portfolio. Urologische Fachpraxen, in denen Menschen mit Hodenkrebs behandelt werden, sind noch nicht eingebunden. „Wir konzentrieren uns vorerst auf die Zahnmedizin“, sagt Muhr. „Wenn wir hier unsere positiven Effekte gezeigt haben, wenden wir uns anderen Facharztbereichen zu.“
Zwischen 400.000 und 800.000 Euro kostet eine Zahnarztpraxis
Pro Zahnarztpraxis zahlen Muhr und Hantzsch je nach Lage, Größe und Ausstattung zwischen 400.000 und 800.000 Euro. Das ist eine Investition, die sich schnell amortisieren könnte. Rund 214.000 Euro beträgt der durchschnittliche Einnahmenüberschuss einer deutschen Zahnarztpraxis im Jahr 2020 laut dem Jahrbuch 2022 der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung.
Viele der von Muhr und Hantzsch übernommenen Praxen sind als Medizinische Versorgungszentren (MVZ) eingetragen. Im Gegensatz zu ärztlich geführten Praxen können MVZ als GmbHs organisiert sein. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sieht das kritisch, er wirft den Betreibern der Zentren fragwürdige Methoden vor: Das dort angestellte Personal ordne unnötige und teure Behandlungen an, um das eingesetzte Risikokapital schnell wieder hereinzuholen.
Um die „Eingriffe am Fließband“ einzudämmen, plant Lauterbach ein Gesetz, das die Aktivitäten der Investoren beschneiden soll. Belege für seine These von der profitbetriebenen Behandlung investorenbetriebener MVZ hat der Bundesgesundheitsminister bislang nicht vorgelegt. Entsprechend gelassen reagiert Muhr: „Wenn das Gesetz kommt, was ich nicht glaube, dann halten wir hierzulande unseren Bestand und konzentrieren uns auf das Ausland.“
Dominik Böhler, Gesundheitsökonom am Deggendorf Institute of Technology, befürwortet, dass Unternehmen die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens vorantreiben. „Die Menschen sind es gewohnt, Dinge mit einem Klick zu bekommen“, sagt er. „Im Einzelhandel steht ja auch niemand an der Theke und wartet darauf, dass Tante Emma die Sachen aus dem Lager holt.“ Angebote für Patienten, wie sie Start-ups wie Patient21 oder Avi Medical machen, seien deshalb eine sinnvolle Ergänzung der medizinischen Versorgung.
„Wir konzentrieren uns vorerst auf die Zahnmedizin“
Auch das Münchener Unternehmen Avi Medical mit 200 Mitarbeitern digitalisiert den Praxisbesuch. Allerdings liegt der Fokus hier nicht auf der Zahnmedizin, sondern auf der Hausarztpraxis. Dass Muhr mit der neuen Finanzierungsrunde verstärkt in die Praxistechnologie investieren will, hält Vlad Lata, Gründer von Avi Medical, für den richtigen Weg. „Technologiegetriebene Praxen können besser auf die Bedürfnisse der Patienten eingehen und sich von herkömmlichen Praxen abheben“, sagt er. Es sei auch für Avi Medical ein positives Signal, dass ein Unternehmen mit einem ähnlichen Geschäftsmodell das Interesse internationaler Investoren wecke, betont Lata.
Ein drittes Unternehmen mit einem digitalen Praxisansatz ist das schwedische Unternehmen Doktor.se. Es bietet medizinischen Rat in einer virtuell durchgeführten Arztsprechstunde an. Bei ernsthaften Erkrankungen wird der Patient an eine Einrichtung vor Ort überwiesen. Seit vergangenem Jahr ist Doktor.se unter der Marke Doktor.de auch in Deutschland aktiv.
Eigene Software für Zahnärzte wird ausgerollt
Muhr und Hantzsch wollen in diesem Jahr weitere Praxen hinzukaufen – an der Gesamtzahl von hundert wollen sie kratzen. Außerdem wird derzeit eine eigene Betriebssoftware, ein sogenanntes Praxisverwaltungssystem (PVS), für Zahnärzte ausgerollt. Bis Ende des Jahres sollen alle Patient21-Praxen mit der eigenen Software ausgestattet sein.
Pitango, der Lead-Investor der aktuellen Finanzierungsrunde, rühmt sich damit, dass von den 250 Unternehmen, in die investiert wurde, 85 verkauft oder an die Börse gebracht wurden. Ein Börsengang oder der Verkauf steht für Muhr aber nicht auf der Agenda. „In den nächsten zwei Jahren werden wir nicht darüber nachdenken, langfristig kann das aber ein Ziel sein“, sagt er.
Vorerst konzentriert sich Muhr auf das, was er beruflich schon einmal geschafft hat: das Wachstum eines Start-ups voranzutreiben. Schon bald will er die ersten Praxen im europäischen Ausland in Patient21-Praxen umwandeln.
Wenn ein Typ-1-Diabetiker ein automatisches Dosiersystem verwendet, wird der Blutzuckerspiegel nicht nur kontinuierlich überwacht, sondern auch automatisch durch eine Insulinpumpe reguliert. Der Einsatz solcher Systeme nimmt zu.
Wie viel leichter wäre das Leben eines Diabetikers, wenn er sich nicht mehr stechen müsste, um seinen Blutzucker zu messen, und wenn er sich kein Insulin mehr spritzen müsste? Genau das ist seit einigen Jahren möglich. Ein Sensorpflaster am Oberarm misst kontinuierlich den Blutzuckerspiegel und übermittelt ihn an eine App. Diese wiederum steuert eine Insulinpumpe, die der Patient in einem Gürtel am Bauch trägt. Sie gibt Insulin ab, wenn der Blutzucker steigt, und stoppt die Insulinabgabe, wenn er sinkt. In Fachkreisen spricht man bei diesem System von Automatisierter Insulin-Dosierung (AID).
AID-Systeme mit Sensorpflaster und Pumpe bieten beispielsweise der irisch-amerikanische Medizintechnikkonzern Medtronic, der US-Pharmakonzern Abbott oder die französische Firma Diabeloop an. Die Kosten für ein solches System liegen bei 3000 bis 4000 Euro im Jahr, schätzt Bernhard Kulzer, leitender Psychologe an der Diabetes-Klinik Bad Mergentheim. Laut Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbandes können Diabetologen inzwischen zehn AID-Systeme verschiedener Hersteller verordnen. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen prüft im Einzelfall, ob die Kasse die Kosten übernimmt.
AID-Systeme eignen sich besonders für Menschen mit der erblichen Diabetes Typ 1. Bei ihnen schwankt der Blutzuckerspiegel stark, weil die Bauchspeicheldrüse kein oder nur wenig Insulin produziert. Auch Kinder und Jugendliche leiden an Diabetes Typ 1. „Kinder waren die ersten, die die AID-Systeme bekommen haben“, sagt Kulzer. „Gerade in der Wachstumsphase will man gute Werte haben, und das kann man mit AID-Systemen erreichen.“
Die Zahl der Typ-1-Diabetiker, die AID-Systeme verwenden, steigt. Das zeigt eine Umfrage des Forschungsinstituts Diabetes Akademie Bad Mergentheim (FIDAM) unter 336 niedergelassenen Diabetologen. Die Ergebnisse werden im Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes 2023 veröffentlicht und liegen Handelsblatt Inside bereits vor: Während im Jahr 2021 durchschnittlich 19 Personen pro befragte Einrichtung ein AID-System nutzten, waren es im Jahr 2022 bereits 45 Personen. Das entspricht 11,9 Prozent der in den Einrichtungen behandelten Typ-1-Diabetiker. Hochgerechnet auf die rund 370.000 Menschen mit Typ-1-Diabetes würde dies bedeuten, dass inzwischen rund 44.000 Menschen ein AID-System nutzen - Tendenz stark steigend.
Ein digitales Begleitprogramm verbessert die Lebensqualität von Menschen mit peripherer arterieller Verschlusskrankheit (pAVK). Das zeigt das Versorgungsprojekt „ pAVK-TeGeCoach", das von verschiedenen Krankenkassen, Kliniken und Medizintechnikunternehmen durchgeführt wurde. Bei der pAVK ist die Durchblutung der Beine oder Arme gestört, häufig haben Betroffene Schmerzen beim Gehen.
In dem Projekt, das mit rund sieben Millionen Euro aus dem Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) gefördert wurde, erhielten 442 von 2000 Menschen mit pAVK ein spezielles Training. Sie nutzten ein Fitnessarmband, um ihre Gehstrecke und Herzfrequenz zu messen und notierten ihre Trainingseinheiten in einer Tagebuch-App. Gesundheitscoaches konnten die Daten einsehen und passten die Trainingspläne an. Die Teilnehmer, die das Programm durchliefen, zeigten eine signifikante Verbesserung ihrer Gehfähigkeit und Lebensqualität im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die nur herkömmliche Versorgung erhielt. Der G-BA hat das digitale Begleitprogramm für die Regelversorgung empfohlen. Lukas Hoffmann
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) plant im Bereich der Digitalisierung stärker mit Indien zusammenzuarbeiten. „Indien und Deutschland werden bei Digitalisierung und Arzneimittelversorgung enger zusammenarbeiten. In beiden Bereichen können wir stark voneinander profitieren“, twitterte Lauterbach Mitte Mai nach einem Treffen mit seinem indischen Amtskollegen Mansukh Mandaviya. Auf Anfrage von Handelsblatt Inside teilte das Bundesgesundheitsministerium mit, dass auf dem G20-Gesundheitsministertreffen im August im indischen Gandhinagar Details der Zusammenarbeit bekannt gegeben werden. Lukas Hoffmann
Patienten können den QR-Code eines elektronischen Rezepts in Zukunft in der Arztpraxis abfotografieren, um es über Apps von Versandapotheken einzulösen. Die rechtlichen Voraussetzungen dafür seien im Sozialgesetzbuch V bereits geschaffen, teilte ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums auf Anfrage von apotheke adhoc mit. Das Foto dient als Alternative zum Einlösen des E-Rezepts über die elektronische Gesundheitskarte (eGK), das ab Juli möglich sein soll. Britta Rybicki
Rund vier Wochen nach einer Cyberattacke auf den Krankenkassendienstleister Bitmarck sind die Einschränkungen noch nicht für alle Krankenkassen behoben. Es gibt aber auch gute Nachrichten. Mehr lesen Sie hier.
Ende Juni soll die KHZG-Sanktionsvereinbarung vorliegen. Diese soll Strafzahlungen regeln, wenn Krankenhäuser ihre Digitalprojekte nicht fristgemäß umsetzen. Wegen der strikten Vorgaben des BMG ist der Zeitplan aber kaum zu halten. Mehr lesen Sie hier.
Mitte Mai haben bayerische Krankenhausträger die Klinik IT Genossenschaft (Klinik IT eG) in München gegründet. Vorangegangen waren intensive Vorbereitungsarbeiten. Mehr lesen Sie hier.
Die Europäische Kommission hat den European Health Data Space – kurz: EHDS – auf den Weg gebracht. Wie sehen Vertreter namhafter Digital Health-Unternehmen die Causa Datenschutz, damit sie nicht Hemmnis für Innovationen wird? Mehr lesen Sie hier.
Das Zürcher Start-up CARE fokussiert sich auf personalisierte Präventivmedizin. Der Abschluss der Seed-Runde erlaubt nun die Expansion in die USA. Mehr lesen Sie hier.
Das Insurtech-Unternehmen Bright Health kämpft inmitten wachsender Verluste und Instabilität um sein Überleben. (Englischer Artikel) Mehr lesen Sie hier.
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